Bin ich das? Oder das?                                                     Link zum vollständigen Text am Schluss

 

Heidi Gidion, Göttingen

 

Der Blick in den Spiegel

 

Ihm ist jetzt ein eigenes Kapitel zu widmen.

 

Der Schritt zur Selbstvergewisserung in der visuellen Verdoppelung entläßt aus sich nahezu immer

etwas Unbefriedigendes: Sei's die Diskrepanz zwischen dem Wunsch-Gesicht und dem

Spiegelbild, Sei's die Einsicht in die letztliche Unzugänglichkeit des gespiegelten Ich für das

betrachtende Ich. In Rilkes Spiegelszene tut der Spiegel zunächst die von ihm erwarteten Dienste -

es ist hier übrigens ein besonders bemerkenswertes Stück, ein schmaler Pfeilerspiegel, aus

einzelnen ungleich grünen Glasstückchen zusammengesetzt:

,,Das war nun wirklich großartig, über alle Erwartung. Der Spiegel gab es auch augenblicklich

wieder,...Aber es galt zu erfahren, was ich eigentlich sei, und so drehte ich mich ein wenig und

erhob schließlich beide Arme...".

Doch bald geschieht das Unheimliche, das mehr als einmal die Quintessenz einer Spiegelgeschichte

ausmacht: Der Spiegel wird vom gehorsamen Diener zum bestimmenden Herrn: Das Spiegelbild

"diktierte mir ein Bild, nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse

Wirklichkeit... jetzt war er der Stärkere und ich war der Spiegel: Ich starrte diesen großen,

schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir ungeheuerlich, mit ihm allein zu sein." Er kann sich

nicht befreien aus seinen Verkleidungen und stürzt zu Boden.

 

Die literarischen Spiegelszenen führen exemplarisch vor, wie schnell die eigene Regie beim

Rollenspiel umkippt ins Erleiden einer gar nicht gewollten Ich-Verwandlung.

Die dichterische Darstellung leistet hier, was überzeugende Literatur generell zu leisten imstande

ist: Sie macht das allzu Gewohnte wieder fremd, sie erinnert uns daran, daß etwas Geheimnisvolles

um die Gestalt ist, die uns da alltäglich mit der seitenverkehrten Verdoppelung im Spiegelbild

gegenübertritt. Wie ein Lebewesen eigener Art kann es erscheinen - wie es überliefert ist aus

uralten Zeiten im Mythos von Narziss, dessen Spiegelbild im Wasser sehnsüchtiges Verlangen im

Betrachtenden auslöst, wie es in unserer Zeit strukturalistische Psychoanalytiker wie Lacan zum

Konstrukt eines "Spiegelstadiums" geführt hat, ausgelöst durch die Tatsache, daß das junge Kind

ebenfalls nach seinem Spiegelbild greift als einem anderen Lebendigen, einem Spielgefährten.

Dem Geheimnis des Spiegels spürt auch Virginia Woolf nach in einer kurzen Erzählung mit dem

Titel "Die Dame im Spiegel". Sie trägt den doppeldeutigen Untertitel "Eine Reflexion", was ja

wörtlich "eine Spiegelung" heißt. Der Eingangssatz lautet "Die Leute sollten keine Spiegel in ihren

Zimmern hängen lassen, genauso wenig wie sie offene Scheckbücher liegen lassen sollten oder

Briefe, in denen ein gräßliches Verbrechen gestanden wird." Die vorher als nicht zu durchschauend

beschriebene, als alterslos scheinende schöne Frau, eine bewegliche elegante Gestalt voller Aura

und Geheimnis, umgeben von edlen Sammlerstücken im Haus, und im Garten einzig mit den

anmutigen Verschönerungen an den Blüten der Pflanzen befaßt, - ihr geschieht plötzlich, daß ihr

Blick ungewollt, unbewußt in den Spiegel im Flur ihres Hauses fällt:

"Sie blieb wie angewurzelt stehen. Sie stand am Tischchen. Sie stand völlig still. Sofort fing der

Spiegel an, ein Licht über sie zu gießen, das sie zu fixieren schien; das wie eine Säure das

Unwesentliche und das Oberflächliche wegzufressen schien und nur die Wahrheit zurückließ. Es

war ein faszinierendes Spektakel. Alles fiel von ihr ab - Wolken, Kleid, Korb, Diamant. Hier war

die Frau selbst. Sie stand nackt in jenem mitleidlosen Licht. Und da war nichts. Sie war

vollkommen leer. Sieh nur, wie sie dastand, alt und kantig, geädert und faltig, mit ihrer hohen Nase

und ihrem runzeligen Hals." Der letzte Satz lautet wie der erste: "Die Leute sollten keine Spiegel in

ihren Zimmern hängen lassen."

 

- Das Spiegelbild unter dem mitleidslosen Blick hell ausgeleuchtet als das Ich, das sich als

entlarvtes präsentiert fühlt, reduziert auf nichts als gealterte Körperlichkeit. Ganz im Gegensatz zum

verzauberten Narziß handelt Virginia Woolf von entzaubernder Spiegel-Magie hier wie auch in

anderen ihrer Erzählungen.

 

Analoges kann beim Blick auf das eigene Foto geschehen. Der schon genannte französische Autor

Roland Barthes widmet in seiner Anti-Autobiographie ,,Barthes par Barthes" seine kritische

Aufmerksamkeit auch diesem nur scheinbar allgemein bekannten Vorgang. Er schiebt neben zwei

Fotos von sich, eines aus seiner Jugend und eines aus der Schreibgegenwart, folgenden knappen

Dialog ein:

,,Aber so habe ich doch nie ausgesehen!" - "Woher wissen Sie das? Was ist dieses, dem Sie

ähnlich sehen oder nicht? Wo soll man es finden? Wo ist Ihr Wahrheitskörper? Sie allein können

sich immer nur als Bild sehen, niemals sehen Sie ihre Augen, es sei denn verdummt durch den

Blick, den Sie auf den Spiegel oder das Objektiv richten. Sogar und vor allem für Ihren Körper

sind Sie zum Imaginären verurteilt."

Daß uns aus dem Spiegel eine imaginäre Gestalt entgegenblickt, eine Fremde, ein Fremder, das ist

ein wiederkehrendes Thema literarischer Spiegelgeschichten. Weil wir selbst ja gar nicht wissen

können, wie wir "in Wahrheit" aussehen.

Zu der paradoxen Wendung "Ich - ein anderer" tritt das Spiegelbild als ein Schüsselzeichen in der

Literatur. Bei genauerem Zusehen ist es mit einer Menge von Bedeutungen ausgestattet, von

bedrohlichen zumeist, die uns schon aus der Volksüberlieferung bekannt sind, aus Glauben und

Aberglauben, z.B. im Verhängen des Spiegels nach einem Todesfall im Haus. Früher galt das

Wesen im Spiegel als die sichtbar werdende Seele. Wenn wir das Wort für "Spiegel" im

Althochdeutschen heranziehen, "scucor", wörtlich Schattenbehälter, bekräftigt sich, was wir schon

ahnten: eine seltsame Beziehung in der Bedeutung von Spiegelbild und Schatten. Von Chamisso

kennen wir den an den Teufel verkauften Schatten des Peter Schlemihl, von ETA Hoffmann die

aberwitzige Geschichte vom verlorenen Spiegelbild, "Abenteuer der Sylvesternacht". Die

romantische Psychologie vom frühen 19. Jahrhundert an faßte in ihren Traum- und

Spiegelgeschichten, Schattengeschichten, Doppelgängergeschichten zum erstenmal im Bild die

Realität dessen, was nicht erst seit Freud das Unbewußte heißt. Das ist wahrhaft das Andere Ich. Es

bedarf jetzt nicht mehr des Teufels. Der Mensch wird gerade in der Literatur, die wir als

romantische klassifizieren, dargestellt als einer, der zwei ist. Gewußt hat man das, wie gesagt,

schon immer: Sehend das Bessere, ...Der Geist ist willig... Aber erst mit den Spiegelgeschichten als

Inbegriff der Geschichten von Ich-Spaltung wird es faßbares, anschauliches Wissen.

Zwei Spiegelgeschichten seien zumindest noch erwähnt wegen ihrer Originalität: Sie sind 200

Jahre voneinander entfernt. Die frühere stammt aus Bettina von Armins Briefroman, in dem sie

ihre Briefe an den Bruder Clemens überarbeitet publiziert hat. Sie war nach dem Tod der Mutter

im Ursulinenkloster in Fritzlar erzogen. Nachdem auch der Vater gestorben war, darf sie das

Kloster verlassen. Zum ersten Mal seit vier Jahren steht die Zwölfjährige wieder vor einem

Spiegel. "Ich erkannte alle, aber die eine nicht, mit feurigen Augen, glühenden Wangen, mit schwarzem,

feingekräuseltem Haar; ich kenne sie nicht, aber mein Herz schlägt ihr entgegen, ein solches

Gesicht hab ich schon im Traum geliebt; in diesem Blick liegt etwas, was mich zu Tränen bewegt,

diesem Wesen muß ich nachgehen, ich muß ihr Treue und Glauben zusagen." Bei der jungen

Bettina Brentano ist schon in dieser narzißtisch zugewandten Begegnung mit dem eigenen

Spiegelbild die Bejahung ihres Ich präfiguriert, die sie zu einem ungewöhnlich eigenständigen

Leben in vielen Rollen prädestinierte. Hier sagt eine Ja zu ihrem Ich - in der Literatur von Frauen

eine ganz seltene Begegnung.

 

Die andere Szene entstammt "Harry Potter und der Orden des Phönix", dem 5. Band von Joanne

K. Rowlings Welt-Bestseller der Gattung Fantasy, der auch Lesarten für Erwachsene, gerade auch

für therapeutisch Tätige, bereit hält, meiner Überzeugung nach. Da schaut der jetzt 15-jährige

Harry zufällig in einen zersprungenen, alterstrüben Spiegel, und was er sieht, muß er mit

Entsetzen von sich weisen. Er sieht als sein Spiegelbild nämlich "ein Gesicht weißer als ein

knochiger Schädel, rote Augen, mit Schlitzen statt Pupillen", den Schädel einer mächtigen

Schlange. Genau der Schlange, als die sein seltsam mit ihm verbundener Todfeind Voldemort

aufzutreten liebt. In dieser Selbstbegegnung ist die Erfahrung "Ich - ein anderer" gleichsam auf die

Spitze getrieben. Wir können sicher sein, die literarisch gewiefte Autorin Joanne Rowling kennt

ihren Stevenson und vergnügt sich mit seiner zitierenden Abwandlung.

 

http://www.aeksh.de/akademie/veranst/HGidion.pdf